Nun ist das alte Jahr bereits ein paar Tage alt und ich war echt stolz – und verwundert – dass ich ohne Traurigkeit durch die Silvesternacht gekommen bin. Aber vielleicht war ich ja wirklich nur zu müde. Oder zu abgelenkt. Wie auch immer: die Tränen kamen in der Nacht.
Die Tränen, die sich das gesamte Jahr wegen der Totgeburt meiner Zwillinge 2002 zurückhalten und erst zum Jahresende beginnen, in mir aufzusteigen. Die sich meist zum 15. Januar dann in regelrechte Sturzbäche ergießen. Es ist wie es ist: dieses Datum löst seit Jahren etwas in mir aus. Auch, wenn es doch im Laufe der Jahre doch etwas abschwächen sollte. Die Erinnerungen sind noch genauso frisch, wie in jenen Tagen. Die Vorfreude, die schmerzerfüllte Erkenntnis, die Schmerzen, die Einsamkeit und die Trauer. Immer wieder die Trauer, die mich innerlich zerreißt. Stimmen, die ich nie gehört habe und die es trotzdem schaffen, sich Gehör zu verschaffen.
Vielleicht wäre damals alles anders gekommen, wenn ich auf eine weitere Untersuchung bestanden hätte. Vielleicht hätte ich dann vor der Entscheidung gestanden, eins meiner Kinder für das Leben des anderen zu opfern. Wie hätte ich mich wohl entschieden? Immer wieder stelle ich mir diese Frage. Und kann sie nicht beantworten. Konnte es damals nicht und schaffe es auch heute nicht. Nach so vielen Jahren. Und im Grund bin ich dankbar, dass ich diese Entscheidung nicht treffen musste. Denn vielleicht hätte ich auf meinen damaligen Mann gehört. Er hätte gegen das kranke Kind entschieden. Vielleicht hätte ich mich auch dagegen aufgelehnt. Vielleicht wäre ich dann nicht den Weg gegangen, den in ich der Zukunft ging. Vielleicht wäre ich dann irgendwann einfach verschwunden aus diesem Leben. Vielleicht wäre es aber auch einfach nur wunderschön geworden mit meinen dann drei Mädchen. Vielleicht wären die kleinen Schwestern Michelle gerade jetzt auf den Keks gegangen und hätten sie in Bezug auf ihren Freund aufgezogen? Vielleicht wäre die Trauer einfacher, wenn ich darauf bestanden hätte, meinen Kindern Namen zu geben und sie zu beerdigen…
Eine Menge „vielleicht’s“. Zu etwas, dass ich nicht mehr ändern oder beeinflussen kann. Gut so. Meistens. Bis auf die Tage und Nächte, in denen die Tränen an die Oberfläche drängen und mein Herz vor diesem großen schwarzen Loch steht und sich einfach nur fallen lassen möchte.
Die ganze Situation läßt sich nicht wirklich in Worte fassen, da es nur Gedankenfetzen sind, die in der Nacht kommen und am Morgen schon fast verschwunden sind. Nur fast. Eigentlich nie. Warum auch? Es waren meine Kinder – ich will sie nicht aus meinen Gedanken und Gefühlen verbannen. Doch ich kann das alles mit niemanden teilen. Darüber reden – ja. Mich in den Arm nehmen lassen – nichts lieber als das. Aber da ist niemand, der an diesem Schmerz teilhaben kann. An meinem ganz eigenen. Tief in mir. Das ist das Schwere.