Der alte Mann und eine längst vergessene Prophezeiung

Anmerk:: Diesen Text habe ich bereits 2008 aufgeschrieben und bin erst jetzt wieder darüber gestolpert. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Denn genauso hat es sich ereignet!

Mit einem Lächeln auf meinen Lippen, das nicht mehr wegzudenken war, lief ich an diesem Abend durch die Stadt. Im Büro war es später geworden als sonst, doch ich wusste: zu Hause wartet jemand auf mich – er wartete. Der Grund für meine Fröhlichkeit, meine Ausgelassenheit. Der Mann, dem ich in 14 Tagen mein Ja-Wort geben wollte. Die Hochzeit war geplant: das Aufgebot vor langer Zeit bestellt, einen knappen Monat später war der Termin für die kirchliche Trauung angesetzt.

Fröhlich ging ich meines Weges um an der Straßenbahnhaltestelle zu warten, bis das große gelbe Ungetüm erscheinen würde, um mich meinem Ziel näher zu bringen.

Regen in der StadtErstaunt stellte ich fest, dass an dieser, sonst mit Menschen überfüllten Haltestelle, nur ein alter Mann wartete, der augenscheinlich auch viel zu viel getrunken hatte. Mit Bedacht wählte ich einen Stehplatz weit weg von ihm aus, wollte ich mir doch meine gute Laune um nichts verderben lassen. Leise beginnender Regen trieb mich jedoch zu dem alten Mann in das Wartehäuschen. Kurz schaute er mich aus verklärten Augen an, die in mein Innerstes zu sehen schienen.

Ein Frösteln durchlief meinen Körper, doch ich bemühte mich, ihm nicht weiter Beachtung zu schenken. Ich versuchte meine abschweifenden Gedanken wieder auf die bevorstehende Hochzeit zu lenken: wie toll sie sein wird und das ich dann endlich meinen Platz im Leben gefunden haben werde.

Zum wiederholten Male schaute der Mann mich mit seinem seltsamen Blick an. Ich wartete förmlich darauf, dass er etwas sagte. Irgendetwas wollte er von mir. Doch was? Ich begann bereits zu überlegen, ob ich ihn nicht evtl. ansprechen sollte. Da, plötzlich öffneten sich seine Lippen während sein Blick – plötzlich klar und frei – auf mich gerichtet war.

Gespannt lauschte ich seinen Worten:

„Kind. Ich würde noch nicht heiraten! Sieh Dich um, es gibt bestimmt einen Anderen!“ 

Meine Gedanken rasten. Hatte ich laut gedacht? Hatte ich von der Hochzeit gesprochen? Nein! Ich war mir absolut sicher. Verwirrt schaute ich den alten Mann an. Bereit mein Vorhaben zu verteidigen, zu erklären, das die Hochzeit das ist, was ich schon so lange herbeisehne und auf das ich mich so sehr freute. Das seine Worte völlig absurd sind, denn ich wollte keinen Anderen!

Doch als mein Blick ihn traf saß er wieder zusammengekauert auf seiner Bank und schien nicht einmal zu bemerken, dass ich existierte.

Kopfschüttelnd stieg ich in die Straßenbahn, die genau in diesem Moment um die Ecke bog und mich einer Erklärung entzog.

Ich habe nie jemandem von diesem Ereignis erzählt, hatte es tief in meinem Innern eingeschlossen – so absurd erschien mir die Situation damals.

Das ich sie nun niederschreibe, hat den Grund, dass viele Jahre vergangen sind. Ich habe damals geheiratet wie geplant und wir waren auch viele Jahre glücklich. Doch nun sind wir ein paar Monate getrennt. Getrennt, weil ich es so wollte. Getrennt, weil von meiner Liebe nichts mehr übrig ist. Getrennt, weil ich es schaffe, meinem Herzen zu erlauben, für einen anderen Platz zu schaffen, jemanden, auf den ich damals schon hätte warten, nach dem ich hätte suchen sollen.

So, wie der alte Mann es mir geraten hatte.

Die Tränen kamen in der Nacht

Nun ist das alte Jahr bereits ein paar Tage alt und ich war echt stolz – und verwundert – dass ich ohne Traurigkeit durch die Silvesternacht gekommen bin. Aber vielleicht war ich ja wirklich nur zu müde. Oder zu abgelenkt. Wie auch immer: die Tränen kamen in der Nacht.

Die Tränen, die sich das gesamte Jahr wegen der Totgeburt meiner Zwillinge 2002 zurückhalten und erst zum Jahresende beginnen, in mir aufzusteigen. Die sich meist zum 15. Januar dann in regelrechte Sturzbäche ergießen. Es ist wie es ist: dieses Datum löst seit Jahren etwas in mir aus. Auch, wenn es doch im Laufe der Jahre doch etwas abschwächen sollte. Die Erinnerungen sind noch genauso frisch, wie in jenen Tagen. Die Vorfreude, die schmerzerfüllte Erkenntnis, die Schmerzen, die Einsamkeit und die Trauer. Immer wieder die Trauer, die mich innerlich zerreißt. Stimmen, die ich nie gehört habe und die es trotzdem schaffen, sich Gehör zu verschaffen.

Vielleicht wäre damals alles anders gekommen, wenn ich auf eine weitere Untersuchung bestanden hätte. Vielleicht hätte ich dann vor der Entscheidung gestanden, eins meiner Kinder für das Leben des anderen zu opfern. Wie hätte ich mich wohl entschieden? Immer wieder stelle ich mir diese Frage. Und kann sie nicht beantworten. Konnte es damals nicht und schaffe es auch heute nicht. Nach so vielen Jahren. Und im Grund bin ich dankbar, dass ich diese Entscheidung nicht treffen musste. Denn vielleicht hätte ich auf meinen damaligen Mann gehört. Er hätte gegen das kranke Kind entschieden. Vielleicht hätte ich mich auch dagegen aufgelehnt. Vielleicht wäre ich dann nicht den Weg gegangen, den in ich der Zukunft ging. Vielleicht wäre ich dann irgendwann einfach verschwunden aus diesem Leben. Vielleicht wäre es aber auch einfach nur wunderschön geworden mit meinen dann drei Mädchen. Vielleicht wären die kleinen Schwestern Michelle gerade jetzt auf den Keks gegangen und hätten sie in Bezug auf ihren Freund aufgezogen? Vielleicht wäre die Trauer einfacher, wenn ich darauf bestanden hätte, meinen Kindern Namen zu geben und sie zu beerdigen…

Eine Menge „vielleicht’s“. Zu etwas, dass ich nicht mehr ändern oder beeinflussen kann. Gut so. Meistens. Bis auf die Tage und Nächte, in denen die Tränen an die Oberfläche drängen und mein Herz vor diesem großen schwarzen Loch steht und sich einfach nur fallen lassen möchte.

Die ganze Situation läßt sich nicht wirklich in Worte fassen, da es nur Gedankenfetzen sind, die in der Nacht kommen und am Morgen schon fast verschwunden sind. Nur fast. Eigentlich nie. Warum auch? Es waren meine Kinder – ich will sie nicht aus meinen Gedanken und Gefühlen verbannen. Doch ich kann das alles mit niemanden teilen. Darüber reden – ja. Mich in den Arm nehmen lassen – nichts lieber als das. Aber da ist niemand, der an diesem Schmerz teilhaben kann. An meinem ganz eigenen. Tief in mir. Das ist das Schwere.

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