Neviâthien – Erlebnisse einer jungen Jägerin

Vorsichtig öffnet die junge Jägerin an diesem Abend ihre Augen. Sie liebt es, in den Abendstunden mit ihrem Begleiter auf die Jagd zu gehen. Der Tag ist geschafft, Ruhe kehrt ein auf der Welt und ab und an trifft sie jemanden, mit dem es sich gut reden lässt.

Ihr Felshetzer, den sie nun schon geraume Zeit bei sich hat, kommt aus seinem Versteck gekrochen, nur um sofort nach Futter zu verlangen. Sie weiß, wenn sie jetzt nicht schnell etwas in ihren Taschen für das Leckermäulchen findet, wird es böse – wenn nicht sogar wütend und bissig. Ab und an kam es schon vor, dass es sich dann gegen sie wandte, die riesigen Reißzähne fletschte und anscheinend vergaß, wer die Herrin und wer das Tier ist. Bis jetzt schaffte sie es immer, diese gefährlichen Situationen für sich zu entscheiden. Doch provozieren wollte sie es auch nicht. Lieber setzten sie beide ihre Energien später bei der Jagd um.

Da, endlich umfassten ihre Finger ein riesiges Stück rohes Fleisch, das sie ihrem Tier nun zuwarf. Geschickt fing es das blutende Etwas mit dem Maul auf, nur um es dann fallen zulassen, die vorderen Krallen darin zu vergraben und mit den Zähnen einzelne Stücke herauszureißen, dass das Blut nur so spritzte.

Die Jägerin setzte sich etwas abseits auf einen Stein und beobachtete die Situation mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie liebte ihren Hetzer und es erfreute sie zu sehen, dass es ihm so gut ging. Seine Muskeln zeichneten sich fest und prall unter seiner Haut ab, als er das Fleisch verschlang. Sie wartete bis auch der letzte Stück, die letzte Ader verschwunden war.

Langsam erhob sie sich und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie lenkte ihre Schritte auf eine kleine Lichtung im Wald, stellte sich mit leicht geöffneten Beinen in die Mitte, stemmte die Fäuste in ihre Hüften und ließ einen grellen Pfiff ertönen. Ein leises Rauschen war über den Baumwipfeln zu hören, das langsam aber stetig immer lauter wurde, bis ein riesiger Schatten sich vor den Mond schob und die Nacht in absolute Dunkelheit hüllte. Aus dem Himmel näherte sich im schnellen Flug ein Vogel, dessen Größe sie immer wieder beeindruckte. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte zurück, um dem schwarzen Greifen Platz zu machen, der nun direkt vor ihr landete, den Kopf senkte und ihr damit zu verstehen gab, dass er für den Ritt in die Nacht bereit wäre.

So hoch wie sie selbst stand der stolze Vogel vor ihr. Kaum konnte sie noch über seinen Rücken schauen, nur, wenn sie sich auf ihre Zehenspitzen stelle, war es ihr möglich zu sehen, was hinter dem Tier verborgen lag. Wie klein er doch war, als sie ihn vor langer Zeit in seinem Nest vor einem Raubvogel gerettet hatte. Eine kleine Ewigkeit, wie ihr schien.

Langsam beugte sie sich nach vorn und versuchte mit ihren schlanken, aber kräftigen Armen den Tierkörper so weit wie nur möglich zu umfassen. Fast ein Ritual geworden war ihr diese Begrüßung.

Das Tier wandte ihr seinen Kopf zu und stupste sie leicht mit dem großen Schnabel in die Seite. Wie gefährlich dieser doch sein konnte, mit nur einem winzigen Schlag war es dem Vogel möglich, ihrem Leben hier und jetzt ein Ende zu bereiten. Doch sie vertraute ihm und er vertraute ihr, blind. Sonst wäre unvorstellbar, was gleich geschehen würde.

Kurz zog sie noch einmal an ihrer kurzen Tunika, die sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Ihre langen, schlanken Beine waren verhüllt von einer engen, dunklen Hose, die von fast keinem Material im Wald durchdrungen werden konnte. Auch so mancher Gegner hatte schon erfahren, dass es nicht so einfach war, sich in ihre Waden zu verbeißen. Wie gut, dass die Hose mit Magie gesegnet war.

Ihre Hände bewegten sich in Richtung Schnabel, umschlossen diesen so fest, wie nur möglich. Klammerten sich daran fest um nicht in die Tiefe abzustürzen, die sich unter ihr breit machte, als der Vogel langsam den Schnabel hob und die junge Frau auf seinem Rücken niederließ. Kaum zu sehen war sie dort, trotz ihrer schlanken, hohen Gestalt. Das Federkleid umgab sie dicht und fein, umschloss ihre Beine, die eng den Leib des Vogels umfingen.

Kurz bevor sie das Zeichen des Aufbruchs geben konnte, hörte sie ein Krächzten, dass sie daran erinnerte, das ihr junger Felshetzer auch mit auf die Jagd wollte.

Ihre Hand verschwand für einen Augenblick in ihrem Rucksack und hielt nach dem Herausziehen einen eigenartig anmutenden Gegenstand fest umklammert. Ihren eigenen Zauberstab!

Viele, die sie auf ihren Reisen schon getroffen hatte, staunten, dass sie als Jägerin die Kunst des Zaubern beherrschte. Doch auf alle Fragen, die man ihr deshalb stellte, antwortete sie stets mit einem stillen Lächeln. Nie würde jemand erfahren, wie es dazu kam, dass sie diesen Zauberstab ihr eigen nennen durfte.

Kurz betrachtete sie den Stab, der eher an einen einfachen Ast erinnerte und nicht offenbarte, welche Kräfte in ihm schlummerten. Sie richtete ihn auf den Hetzer, schloss die Augen, konzentrierte alle inneren Kräfte, die von Nöten waren und sprach den entscheidenden Satz leise flüsternd vor sich hin. Ein kurzes Vibrieren des Stabes war das Einzigste, das darauf hindeutete, daß etwas geschehen war. Erst, nachdem sie ihre Augen öffnete und sah, dass die Stelle, an der ihr Begleiter eben noch stand, leer war, lächelte sie. Er war jetzt an einem anderen Ort dieser wunderschönen, mysteriösen und unerklärlichen Welt und würde dort auf sie warten, bis sie ihn am Landeplatz wieder zu sich rief.

Sie steckte den Stab wieder in ihren Rucksack und sah sich noch einmal kurz auf der Lichtung um, bevor sie dem Greifen durch ein kurzes, festes Andrücken ihrer Schenkel bedeutete, sich in die Lüfte zu erheben. Ihre schmalen Hände griffen beherzt in den Nackenflaum und begannen, den Vogel mit der ganzen Kraft, die in ihr war, zu dirigieren.

Sie lenkte ihre Schritte nah an das wunderschöne Tier, so nah, dass sie mit den Fingern durch sein dichtes Federkleid fahren konnte. Wie immer durchrieselte ein leiser Schauer ihren Körper, sobald ihre Fingerspitzen die Feine und Weiche erfühlten.

Leicht und schnell erhob er sich in die Lüfte, entgegen den noch unbekannten Abenteuern, die sie erwarteten. Sie spüre die Anspannung des Tieres unter sich genauso intensiv, wie ihre eigene. Kurz zog sie ihre Hand zurück um dem Vogel zu bedeuten, einen Richtungswechsel vorzunehmen, dann ließ sie die Hände in ihren Schoß gleiten, lehnte sich leicht in das dichte Federkleid zurück und überließ sich gerne dem Zufall und dem Gespür des Greifen.

Sie schloß ihre Augen, spürte, wie der entgegenkommende Wind durch ihre langen, glatten Haare wehte, die sie nach diesem Flug sicher mit einem Band bändigen mußte. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als sie überlegte, was sie wohl diese Nacht erwarten würde. Vielleicht ja nur eine kurze Jagd nach etwas Fleisch, damit ihr Leben die nächsten Tage gesichert war? Oder doch eine Rettungsaktion, weil sich jemand in höchster Not befindet? Vielleicht ein Bad in einem versteckten See, unter dem vollen Mond, der ihren Körper bescheinen würde, als wäre er nur für sie am Himmel?

Über ihre Gedanken war sie wohl eingenickt, denn plötzlich schreckte sie die Tatsache fast vom Greifen zu fallen aus einem traumlosen Schlaf auf. Sie setzte sich, so gut es ging auf, ihre Finger fassten wieder hinter den Nacken des Tieres und versuchten verzweifelt, den Vogel dazu zu bewegen, seine Schräglage zu verändern, die ungebremste Schnelligkeit des Fluges zu bändigen. Doch ohne Erfolg.

Erstaunt versuchte sie nach vorn zu rutschen um einen Blick in die Augen des Vogels zu erhaschen. Der schnelle und wilde Flug machte es ihr fast unmöglich sich zu bewegen, ohne vom Tier in die Tiefe zu stürzen. Nach einigen Versuchen war ihr das Glück hold, doch was sie sah, ließ eine Gänsehaut auf ihrer zarten Haut erscheinen. Schwarz und wie von fremder Macht beseelt schauten die großen, runden Pupillen starr geradeaus, ohne jede Regung, ohne jegliches Gefühl. Sie versuchte Kontakt zu dem ihr lieb gewonnenen Begleiter herzustellen, erst durch lautes Rufen, dann durch das Trommeln ihrer Hände auf seinem Körper. Selbst Tritte, die sie so fest wie möglich verteilte, blieben ohne jede Reaktion.

Ermattet ließ sie sich schließlich zurückfallen und wurde sich bewußt, daß sie sich ihrem Schicksal ergeben mußte. Doch nicht ganz! So leicht wollte sie nicht aufgeben.

Vorsichtig beugte sie sich zur Seite, immer mit den Händen am Gefieder festklammernd, schaute in die Tiefe um zu erkennen, wohin ihre Reise gehen würde, erahnen zu können, was sie erwartete und wer der unbekannte Beherrscher ihres Reittieres war. Nur Dunkelheit war unter ihnen zu erkennen. Keine Andeutung einer Vegetation, nicht die winzigste Spur eines Lebens. Nur absolute Schwärze. Sie setzte sich unter Anstrengung wieder zurück und suchte mit ihren hellen Augen den Himmel nach dem großen, strahlenden Planeten ab, der ihr so oft in der Nacht den Weg wies. Doch auch der Mond schien sich in dieser Nacht hinter den dunklen Wolken zu verstecken um nicht mit ansehen zu müssen, wohin ihr Ritt gehen würde.

Leicht spürte sie, wie Angst und Panik von ihrem Körper Besitz ergreifen wollten. Sie ermahnte sich selbst zur Ruhe, versuchte sich an die Worte ihres Lehrmeisters zu erinnern, daß eine Jägerin stets bedacht, leise und konzentriert zu handeln hat – diese Fähigkeiten sichern ihr Überleben!

Mit einem Ruck änderte sich nach einiger Zeit die Flugrichtung und der Kopf des Vogels neigte sich nach unten um in den Sturzflug überzugehen.

Leicht und schnell erhob er sich in die Lüfte, entgegen den noch unbekannten Abenteuern, die sie erwarteten. Sie spüre die Anspannung des Tieres unter sich genauso intensiv, wie ihre eigene. Kurz zog sie ihre Hand zurück um dem Vogel zu bedeuten, einen Richtungswechsel vorzunehmen, dann ließ sie die Hände in ihren Schoß gleiten, lehnte sich leicht in das dichte Federkleid zurück und überließ sich gerne dem Zufall und dem Gespür des Greifen.

Neviâthien hielt vor Spannung den Atem an, bis sich ihr Körper die nötige Luft durch ein lautes Einatmen selbst zu holen schien. Ihre Brust hob und senkte sich vor Aufregung, eine Gänsehaut, die begleitet wurde von einem heißen Kribbeln, machte sich auf ihrer Haut bemerkbar.

Wann und wo würde der Flug nur enden? Was erwartete sie? Gedanken huschten durch ihren Kopf und ihre kleine Nase begann vor Spannung zu jucken, so daß zu befürchten war, daß sie sich mit einem Nieser verraten würde. Automatisch griff ihre Hand in ihr Gesicht und drückte vorsichtig zu.

Dann plötzlich endete der rasante Flug und der Vogel landete mit einem Satz. Neviâthien begann vorsichtig, sich umzuschauen. Viel konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Dunkle Bäume standen dicht zusammen gedrängt um eine kleine Lichtung, in deren Mitte der Greif sich nun setzte und ihr damit bedeutete, von seinem Rücken zu steigen.

Mit einem geübten Sprung bewegte sie sich neben das Tier, das sofort die Flügel ausbreitete und im finsteren Nachthimmel verschwand. Neviâthien lief so schnell sie konnte unter die nächsten Bäume, um ein wenig Deckung zu haben und nicht ein ganz so leichtes Ziel darzustellen. Während sie in die Hocke ging, griff ihre kleine Hand in ihren Beutel und zog den Zauberstab hervor. Leise murmelte sie die nötigen Worte, um ihren Felshetzer herbeizurufen. Doch nichts geschah. Noch einmal, diesmal langsam und so konzentriert, daß sich eine kleine Falte auf ihrer hohen Stirn bildete, sprach sie die Formel aus. Doch auch diesmal war kein kurzes Flimmern zu spüren und ihr treuer Begleiter stand nicht plötzlich neben ihr. Verwirrt schaute sie um sich. Was hatte das alles zu bedeuten? Erst der abenteuerliche Flug, dann die Landung in dieser unwirklichen, düsteren Gegend und nun die Tatsache, daß sie anscheinend ganz alleine war.

Schließlich siegte ihre Neugierde über die aufkeimende Angst und Neviâthien erhob sich, um sich ein wenig umzusehen und dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Stolz hob sie den Kopf um einem vielleicht anwesenden Feind zu signalisieren, daß sie für einen Kampf bereit war. Vorsichtig griff ihre Hand auf ihren Rücken und griff beherzt zu. Als sie den Arm wieder vor ihre Brust hielt, war ein großer, schwerer Bogen zu sehen.

Ihr prüfender Blick konnte die Dunkelheit kaum durchdringen.

Nur schemenhaft erkannte sie die um sie stehenden Bäume. Ihre Stämme waren so riesig, daß Neviâthien sie nicht mit ihren beiden Armen umfassen würde können. Die Höhe war nicht einzuschätzen, da die Wipfel weit in den dunklen Nachthimmel ragten und nur selten fanden ihre Augen die Möglichkeit, einen Stern am Himmel zu erkennen. Prüfend ließ sie ihre freie Hand über einen der Stämme gleiten. Weich, zart und fast wie Haut fühlte sich die Oberfläche an, stellenweise hatte sie das Gefühl, etwas würde sich unter ihren Fingern bewegen. Mit leichtem Kraftaufwand gelang es ihr sogar, die Fingerkuppen etwas nach innen zu drücken. So etwas hatte sie nie zuvor gespürt.

Vorsichtig ließ sie sich anschließend auf ihre Knie nieder um den Untergrund näher zu untersuchen. Doch auch hier war die Schwärze der Nacht nicht zu durchbrechen. Als ihre Hände den Boden berührten, fühlte sie nichts außer harter Erde, auf der feste, teils scharfkantige Steine oder Felsen lagen. Kaum gelang es ihr etwas davon in die Hand zu nehmen: obwohl nicht sehr groß war der Gegenstand erstaunlich schwer, schnell entglitt er ihr und fiel wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurück, als würde er sich gegen eine genauere Untersuchung wehren. Doch keinerlei Gras oder Büsche berührte ihren Körper. Nur eins war sicher: hierher hatten ihre Reisen sie zuvor nie gefühlt und sie hatte noch nie von diesem Ort gehört.

Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft, die feucht begann ihren Weg unter ihre Kleidung und an ihre Haut zu finden. Leicht säuerlich und nach Fäulnis riechend. Instinktiv versuchte sie, so flach, wie möglich zu atmen um dieser unangenehmen Mischung keine Möglichkeit zu geben, in sie einzudringen.

Laut und kurz durchbrach plötzlich ein schriller Pfiff die Nacht, der Neviâthiens Ohren schier zum Platzen zu bringen schien. Eine kleine Ewigkeit hielt sie gespannt den Atem an. Wartend und lauernd schaute sie um sich. Nichts deutete darauf hin, ob dies ein Zeichen war, das ihr galt, ob von Mensch, Tier oder einem anderen Wesen ausgestoßen. Danach wieder Stille. Neviâthiens Brust begann, sich zu bewegen, als sie es vorsichtig wagte, ihren Lungen wieder die notwendige Luft einsaugen zu lassen.

Den Bogen wieder vor ihrer Brust haltend, griff sie in ihren Köcher und zog einen langen, aus festem Holz geschnitzten Pfeil heraus, den sie an der Sehne postierte, um sich verteidigen zu können.

Nach rechts und links wanderte ihr wachsamer Blick, doch die Dunkelheit gab nicht zu erkennen, was in ihr lauerte. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen vor Anspannung, die langsam begannen, sich einen Weg über ihr Gesicht zu bahnen. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, begann sie sich vorwärts zu bewegen, immer im Schutz der Bäume bleibend. Ab und an meinte sie große dunkle Schatten zu erkennen, die um sie herum huschten und sie zu beobachten schienen.

Das Licht des Mondes durchbrach weit vor ihr ab und zu die Dunkelheit, sein Schein war ihr einziger Orientierungspunkt und dem versuchte sie zu folgen. Schritt für Schritt bewegte sie sich vorwärts, ab und an stolpernd über die Gegenstände, die den Boden bedeckten oder gegen einen Baum prallend, der sich plötzlich vor ihr aufbaute, obwohl die Stelle eben noch leer zu sein schien.

Ihr Gefühl bedeutete ihr wachsam zu sein, obwohl sie außer diesem einen Pfiff nur ihren eigenen Atem hörte. Kein Leben war zu spüren, alles um sie schien tot zu sein.

Nach Stunden, wie ihr schien, spürte sie, wie die Kraft sie verließ und sie wußte, daß sie dringend Ruhe brauchte. Vorsichtig tastete sie sich zum nächsten Baum vor und untersuchte die Möglichkeit, ihn zu besteigen. Doch keinen Ast oder noch so kleinen Vorsprung konnte sie finden. Die glatte und leicht feuchte Oberfläche ließ keinerlei Festhalten zu.

Trotz dieser ungünstigen Situation beschloß sie, zu ruhen. Sie steckte ihren Bogen weg und zog stattdessen einen Dolch hervor, den sie fest in ihrer Hand hielt, als sie sich schließlich auf den Boden niederließ und den Rücken an den Baum lehnte. Einige Zeit bemühte sie noch, ihre Augen offen zu halten, doch schließlich übermannte ein tiefer Schlaf sie.

Ein leises, weiches Lachen drang an Neviâthiens Ohr, das sie aus einem unruhigen, traumlosen Schlaf riss. Verwirrt öffneten sich ihre Lider und sahen direkt in zwei große Augen, in denen der Schalk anscheinend zu Hause war. Mit geübten Blick begann sie, die noch immer lachende, Person vor sich zu betrachten.

Eindeutig ein weibliches Wesen mit einer mittelgroßen, kraftvollen Figur, die nur von einem einzigen Stück bekleidet zu sein schien. Ein breiter Lederstreifen verdeckte nur knapp einen heranwachsenden Busen, bevor er quer über einen flachen, angespannten Bauch verlief, und dann direkt das Dreieck zwischen zwei wohl geformten Beinen bedeckte.

Anscheinend noch nicht ganz dem Mädchenalter entwachsen, machte sie durch ihr Auftreten doch klar, daß sie bereit war, als Frau angesehen zu werden. Neviâthien wußte selbst noch, wie schwer diese Zeit für ein Mädchen sein kann und beschloß deshalb, dieses Thema mit Vorsicht zu behandeln.

Das lachende Mädchen hockte auf ihren Fersen, die Schenkel weit gespreizt und stütze sich auf ihre kleinen Hände, die vor ihren Füßen auf dem Boden lagen. Anscheinend genoß sie es, Neviâthien so direkt in die Augen sehen zu können. Ihre Füße waren nackt und für Neviâthiens Geschmack viel zu groß.

Kurz stockte der Jägerin der Atem, als ein dunkles, wedelndes Fellstück hinter dem Wesen erschien. Zuerst glaubte sie, ein Tier gesehen zu haben, doch bei dem nächsten Auftauchen erkannte sie, daß es sich offensichtlich um eine Schwanzspitze handelte. Neugierig wanderte ihr Blick nun zu dem Gesicht der Unbekannten. Kurze, unregelmäßig gewachsene Haare, die ihren eigenen Willen zu haben schienen, standen dem Mädchen vom Kopf. Unter einer glatten Stirn lagen große, dunkle Augen, die umrahmt waren von vollen, noch dunkleren Augenbrauen. Diese befanden sich über einer kleinen Nase und einem zierlichen Mund. Selbst die kleine Narbe am Kinn konnte den Eindruck nicht zerstören, daß es ein schlichtes, doch sehr schönes Gesicht war.

„Bist Du endlich erwacht? Du scheinst ja eine ganz schöne Schlafmütze zu sein. Schon vor dem ersten Sonnenstrahl habe ich Deinen lauten Atem gehört und Dich hier sitzend gefunden. Sei froh, daß ich es war und nicht ein wildes Tier! Was machst Du hier? Wo kommst Du her? Bist Du vom Himmel gefallen oder hat Dich etwas her geflogen? Wie heißt Du? Ich habe Dich hier noch nie gesehen. Wo willst Du hin? Auch zum großen Turnier? Wieso dürfen da eigentlich alle hin, nur ich nicht? Und warum bist Du allein unterwegs? Du bist doch eine Jägerin – stimmts? Haben nicht alle Jäger einen Begleiter? Wo ist Deiner? Ich habe noch nie eine Jägerin gesehen. Bei uns dürfen nur die Männer Jäger werden. Wie alt bist Du? Bist Du vergeben? Hast Du eine Familie? Du bist eher die Schweigsame, stimmts? Nun sag schon.“

Obwohl es eine angenehme, klare und weiche Stimme war, die anscheinend ununterbrochen reden konnte, war es nun Neviâthien, die lachte und dabei ihre Hände wie zur Abwehr vor ihr Gesicht hob. „Langsam! Bitte gib mir einen Augenblick, bevor ich Dir antworte.“

Ein Enttäuschen war auf dem Gesicht der Anderen zu sehen, die aber in ihrem Redeschwall innehielt. Jedoch nur für einen winzigen Augenblick. Danach sprudelten die Worte wiederum wie ein Wasserfall über die junge Jägerin, die angestrengt versuchte, dem Wortschwall zu folgen: „Du möchtest Dich sicher frisch machen, bevor Du aufbrichst. Ich kenne eine wundervolle Stelle, ich zeige sie Dir, wenn Du mich mitnimmst. Tust Du das? Bitte. Ich würde so gerne mit gehen. Ich träume schon ewig davon, aus dem Wald herauszukommen. Ich bin die beste Fährtenleserin in der ganzen Gegend – das hat sogar Murmeal gesagt! Die Anderen behandeln mich immer noch wie ein Kind, dabei habe ich schon 14 Monde gesehen! Murmeal sagte immer: Norin – Du hast Deine Ausbildung abgeschlossen und bist bereit für die Welt und ihre Abenteuer! Doch meine Mutter wollte davon nichts hören. Nun bin ich allein und ihre letzten Worte waren: Höre immer auf Dein Herz und das, was Murmeal Dir sagt! Bitte nimm mich mit! Ich bin Dir sicher sehr nützlich!“ Bei ihren Worten war das Lachen aus ihren Zügen verschwunden und hatte einer großen Bitte Platz gemacht.

„Du heißt also Norin, bist 14 Monde alt, also schon fast eine Frau, Dein Lehrer hieß Murmeal, der, genau wie Deine Mutter, nicht mehr lebt. Du bist Fährtenleserin, kennst Dich hier aus und kannst mir behilfreich sein?“

Mit ihren großen Augen, die voller Bewunderung Neviâthin anstrahlten, nickte Norin der Jägerin zu. „Woher weißt Du das?“

Neviâthin verbarg ihre aufsteigende Belustigung und legte eine gewisse Ernsthaftigkeit in ihre Stimme, bevor sie improvisierend erwiderte: „Du scheinst eine kluge, junge Frau zu sein, da Du richtig erkannt hast, daß ich eine Jägerin bin, die sich auf dem Weg zum Turnier befindet. Meinen Begleiter werde ich zur rechten Stunde wieder an meiner Seite haben. Da mir diese Gegend unbekannt ist, würde ich gerne Dein freundliches Angebot annehmen und bitte Dich, mir die angepriesene Wasserstelle zu zeigen. Danach werden wir etwas Essbares besorgen, uns zusammen setzen und reden.“ Die Fragen zu ihrer eigenen Person ließ sie unbeantwortet, da die Erfahrung ihr gelehrt hatte, daß Zurückhaltung manchmal der bessere Weg war.

Norin sprang mit einem freudigen Schrei auf, streckte ihre Arme weit in die Höhe, während ihre Schwanzspitze lustig um sie herum tanzte. „Oh ja! Dann komm! Es ist nicht weit! Und diese Stelle kennen nur wenige! Bleib dicht hinter mir und weiche den roten Pflanzen aus!“

Nun erhob sich auch die junge Jägerin. Sie fühlte sich ausgeruht und freute sich auf die Möglichkeit, den Schlaf und den Staub der vergangenen Nacht abwaschen zu können.

Mit vorsichtigem Schritt folgte sie Norin, die voller Elan voraus eilte.
Als ihr Blick die nähere Umgebung abtastete, wurde ihr bewußt, daß im Strahlen der Sonne die Vegetation eine gänzlich andere war, als in der Dunkelheit der vergangenen Nacht.
Der Wald mit seinen hohen Bäumen erstreckte sich so weit ihr Blick reichte. Die Stämme waren aus einem hellen Holz, das sich angenehm, fast anschmiegsam anfühlte, als sie es berührte. Die Blätter über ihr leuchteten in einem satten Grün, während ein leichter Wind für ein sanftes Rauschen sorgte.

Der Erdboden war bedeckt mit unzähligen kleinen Pflanzen, deren Stängel, Blüten und Blätter ein Farbenmeer zauberten, so schön, daß sie den Wunsch verspürte, sich fallen zu lassen und darin zu baden. Dieser wunderschönen Natur so nah wie nur möglich zu sein.

Konnte sie sich letzte Nacht so getäuscht haben? Wohin waren die dunklen, unangenehmen Dinge verschwunden, die ihre Hände erkundet hatten? Sie würde Norin danach fragen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.

Doch nun folgte sie der jungen Frau, die fröhlich vor sich hin summend, ab und an von einem Bein auf das andere hüpfend, einige Kros entfernt, auf einem unsichtbaren Pfad ihren Weg nahm.

Neviâthin lächelte, als ihr einfiel wie unbeschwert sie damals noch war, als ihr Lehrer versuchte, ihr die Maßeinheiten zu erklären. Bereits als sehr junges Mädchen liebte sie es, seinen Worten zu lauschen. Es gab nichts, das er anscheinend nicht wußte und ihr zu erklären versuchte.

Dank ihrer guten Auffassungsgabe hatte sie schnell verstanden, daß ein Kros so lang war, wie fünf aneinander gelegte Lilal.

Diese handgroße Pflanze gab es auf ganz Arinad. Über Nacht wuchsen die getreideähnelnden Stängel und erhoben sich am frühen Morgen bereits in ihrer ganzen Größe. Das Außergewöhnlichste war, daß sie immer die gleiche Länge hatten. Eine Pflanze glich der Anderen und deshalb hatten die Weisen Ariands, die Velehiten, vor vielen Monden verkündet: „Lilal ist ab sofort die Grundlage aller Maßangaben. Fünf Lilal sind gleich ein Kros.“ Das Wort der Velehiten war Gesetz und seither nutzte das Volk Arinads diese Angaben.

Neviâthin konnte es damals nicht unterlassen, ihren Lehrer zu necken. Sie stellte sich dumm, ohne dass er es zu bemerken schien. Immer wieder brachte er neue Vergleiche an, um ihr zu erklären, wie sie sich die Länge eines Lilals vorzustellen habe. Nachdem sie bei den angebrachten Beispielen anhand von Pflanzen immer wieder nicht verstehend den Kopf schüttelte, ging er über zu den Tieren. Eine Maus sei groß, wie ein Lilal. Ihre Gegenfragen waren: „Ausgewachsen oder Baby? Mit Schwanz oder ohne? So lange sie lebt, oder wenn sie bereits ein paar Monde ihr Leben ausgehaucht hat?“ So und so ähnlich brachte sie ihn an den Rand des Wahnsinns. Im Grunde ihres Herzens war sie ihm aber viel zu sehr zugetan, um ihn weiter zu quälen. Daher gestand sie ihm schließlich kleinlaut, daß sie ihn sehr wohl verstanden und nur einen Scherz gemacht habe.

Zuerst wütend, doch dann freudig überrascht, sah er sie an. Seine anschließenden Worte ließen sie vor Stolz ein kleines Stück gen Himmel wachsen: „Sehr gut Neviâthin! Du hast wirklich gut gelernt! Manchmal ist es von Vorteil, wenn Du Deinem Gegenüber keinen Einblick auf Dein gesamtes Wissen schenkst. Dass Du es geschafft hast, mich zu täuschen, gibt mir die Überzeugung, daß es Dir auch bei jedem Anderen gelingen wird!“

„Neviâthin! Vorsicht!“
Der schrille Ruf riß sie aus ihren Gedanken und holte sie in das Hier und Jetzt zurück. Verwirrt schaute sie sich um.

–> vorläufiges Ende bis…

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